Um 07:47 besteigen wir auf dem Hamburger Hauptbahnhof den IC2472. So beginnt das 'Baltic Sea Project I', wie Frank es nennt. Im Regionalexpress, in den wir in Stralsund wechseln, wird es voll im Fahrradabteil: Wir sind offenbar nicht die einzigen, die in dieser Gegend Fahrradfahren wollen. Die kleine
Fähre, die die Insel Usedom bei Karnin mit dem Festland verbindet, hatte ich auf einer Radreise vier Jahre zuvor entdeckt. Es ist sogar noch derselbe Fährmann wie damals, allerdings hat sich das Schiff der Größe nach verdoppelt und die Preise sind mindestens dreimal so hoch wie früher. In Karnin wartet ein Hafenfest auf uns, Grund genug, hier gleich eine Mittagspause einzurichten. Nach knapp 60 km Fahrt erreichen wir hinter Ahlbeck den bewährten
Fußgänger- und Fahrradgrenzübergang nach Polen.
In Świnoujście (Swinemünde) überqueren wir mit der kostenlosen
Stadtfähre die Swine und lassen somit die Insel Usedom hinter uns. Hier beginnt die landschaftlich ebenso reizvolle Insel Wollin. Noch in Swinemünde wenden wir uns dem mit 70m höchsten
Leuchtturm der polnischen Ostseeküste zu. Es ist der erste von vielen weiteren Leuchttürmen, die wir im weiteren Verlauf der Reise sehen werden. Etwa 15km weiter ostwärts liegt Międzyzdroje (Misdroy), ein gut besuchtes Ostseebad. Wir haben keine Zweifel hier eine Unterkunft zu bekommen, lädt uns doch fast an jedem zweiten Haus ein Schild 'WOLNE POKOJE' (Zimmer frei) ein. Die Vermieter scheinen sich allerdings verabredet zu haben, keine Gäste nur für eine Nacht aufzunehmen, da hilft auch keine Verhandlung über den Preis. Erst nach etlichen Versuchen haben wir bei einer Privatunterkunft Glück, deren freundliche Vermieter am nächsten Tag verreisen wollen und uns daher sowieso nur eine Nacht unterbringen können. Jetzt können wir uns in den touristischen Trubel an der Strandpromenade stürzen und den Tag mit einem
Sunsetbier abrunden.
Um sechzehn Minuten nach sieben lässt Frank den Wecker klingeln. Ein Vergehen, für das ich bei vorherigen Reisen von ihm zumindest gelyncht worden wäre. Die Zeiten ändern sich. Wir beginnen den Tag mit Waffeln und Erdbeersoße als Frühstück in einer Konditorei in der Stadt. Der Wisentpark am Ortsausgang erregt unsere Aufmerksamkeit, er ist allerdings noch geschlossen und so bekommen wir die urtümlichen Rindviecher nicht zu sehen. Die waldreiche Insel Wollin verlassen wir bei Dziwnów (Berg Dievenow). Wir verlassen jetzt die Küste, um einen Exkurs nach Süden einzuschlagen. Unser Mittagessen nehmen wir in einer Restauranthalle mit sozialistischem Charme ein, wie ich sie von früher her aus Tschechien kannte. Hier im ländlichen Hinterpommern schien sowieso die Zeit stehen geblieben zu sein. Dies merkte ich auch, als ich einige Kilometer weiter auf den Spuren meiner Familie durch verfallene Dörfer fuhr. Ich schwankte zwischen der Traurigkeit des Verfalls und der Faszination, dass sich hier in den letzten 60 Jahren offenbar so gut wie nichts geändert hatte. Nur ein wenig weiter, in Städten wie Gryfice (Greifenberg) und insbesondere an der Ostseeküste, sieht das völlig anders aus. Mit der kleinen Pension 'Pod Wozem' in Trzebiatów (Treptow an der Rega) finden wir auf Anhieb eine schöne Unterkunft bei der es sogar Frühstück gibt. Nach dem kurzen touristischen Pflichtprogramm mit Rynek (Marktplatz), Marienkirche aus dem 14. Jhdt. sowie einem Abstecher zur Rega finden wir mit Hilfe der örtlichen Jugend ein kleines gemütliches Restaurant.
Nach einem Luxusfrühstück in der Pension machen wir uns auf den Weg ins Ostseebad Kołobrzeg (Kolberg). Auf scheinbar
unendlichen Alleen, wie es sie vielerorts in Hinterpommern noch gibt, fahren wir in die alte Hansestadt. Hier beeindruckt uns die
Marienbasilika sowie das von C. F. Schinkel entworfene
festungsartige Rathaus. Wie in vielen polnischen Städten, wurden auch hier die zerstörten Baudenkmäler nach dem Krieg wieder originalgetreu aufgebaut. Dies gilt auch für den
Leuchtturm, den wir selbstverständlich nicht auslassen. Hauptanziehungspunkt für die vielen Besucher ist aber der feine, lange
Sandstrand sowie ein paar Solequellen, die die Stadt zu einem bedeutenden Kurbad machen.
Ab Ustronie Morskie fahren wir auf kleinen, teilweise unbefestigten Wegen direkt
an der Ostsee entlang. So bleibt mir der Autoverkehr erspart, nicht jedoch der
Leuchtturm von Gąski. Es handelt sich dabei aber wirklich um ein sehr schönes Exemplar, oder, um es mit Franks Worten zu sagen: 'Leuchtturm denk' ich, ist immer gut'. Nach etwa 200 Stufen haben wir die 41m hohe Plattform erklommen und genießen das
Küstenpanorama.
In
Koszalin (Köslin) machen wir uns zunächst auf die Suche der dortigen Jugendherberge. Eine Ausschilderung gibt es nicht, schließlich werden wir in einem verfallenen Industriekomplex fündig. Um so mehr überrascht uns der gute Standard der Herberge. In dem modern eingerichteten Haus beziehen wir ein Zweibettzimmer. Einige Kilometer südlich der Stadt ist nun Frank dran seine Familienwurzeln geographisch zu erkunden, bevor wir zur Stärkung zurück nach Köslin fahren. Die 'altpolnische Sauerteigsuppe' kommt zwar nicht an das schlesische Original 'Żurek' heran, ist aber dennoch nicht schlecht.
Die Konditorei in der Stadt hat zwar nur recht fetten Kuchen zu bieten, der Kaffee ist aber gut. Wir nehmen die N6 aus der Stadt nach Osten und müssen hier sogar eine richtige Steigung bewältigen. Nach wenigen Kilometern biegen wir nach Norden ab, um eine Stadt zu besichtigen, deren Namen man bei uns vor allem von der Wursttheke her kennt: Darłowo, zu deutsch: Rügenwalde. Dieses Städtchen gehört zu den wenigen der Gegend, die unversehrt den Krieg überstanden haben, daher wirkt der im 14. Jhdt entstandene und hauptsächlich im 18. Jhdt gestaltete
Stadtkern mit den barocken Häusern zu recht authentisch. Unsere nächste Station ist Ustka (Stolpmünde). Die Stadt wirkt touristisch, ist aber nicht überlaufen. Hier ist auch mal wieder eine
Leuchtturmbesichtigung dran, hatten wir doch schon den Turm in Darłowo ausgelassen. An der Mole schlagen uns hohe Wellen entgegen. Zum Glück hat der Wind für uns die richtige Richtung, er kommt aus Westen.
Auf dem Weg nach Smołdzino passieren wir eher zufällig die kleine
Kirche von Objazda. Wie ich später lese, handelt es sich bei dem ca. 400 Jahre alten Gotteshaus um eines der ältesten Fachwerkgebäude Pommerns. Im kleinen Ort Smołdzino am Rande des slowinzischen Nationalparks suchen wir eine Bleibe. Tatsächlich finden wir auf Anhieb eine Privatunterkunft. Wir haben Glück, dass die deutsch sprechende Nachbarin unseres späteren Vermieters ihn überredet, uns für nur eine Nacht aufzunehmen. Für 30 Złoty pro Nacht beziehen wir in dem renovierten Haus das Kinderzimmer. Beim Duschen kommt die Ernüchterung: Nur kaltes Wasser! Kein Wunder, gibt es doch im ganzen Haus keinen Strom. Wie lange hier ein Stromausfall dauern würde, vermochten wir nicht abzuschätzen, doch nachdem wir eiskalt geduscht hatten und bereits die Taschenlampen herausgelegt hatten, geht das Licht wieder an. Nachdem Abendessen im überraschend touristisch aufgemachten Gasthaus kehren wir direkt wieder in unsere Unterkunft zurück. Wohin auch sonst in diesem kleinen Dorf? Die Frage nach Bier versteht unser Vermieter sofort, und für 4,60 Złoty erstehe ich von ihm zwei Flaschen.
Überraschend bekommen wir in der Unterkunft Frühstück. Das war bei den Verhandlungen am Vortag nicht klar geworden. Etwas später als sonst fahren wir los, denn der
heftige Sturm, der jetzt tobt, ist nicht gerade verlockend zum Radfahren. Bei starkem Seitenwind sind wir über alle Knicks und Wälder dankbar, die den Wind abschwächen. Später werden wir sehen, dass dieser Sturm nur wenig weiter im Osten große Bäume entwurzelt und viel Schaden angerichtet hat. Bereits um kurz nach zwölf beziehen wir eine Unterkunft in Charbrowo. Eine junge Familie leitet die kleine Pension Maja, die bereits gut besucht ist.
Das soll es aber noch nicht für heute gewesen sein, denn wir haben die Riesendünen bei Łeba im Visier. Wir lassen unser Gepäck in der Pension und fahren nach Łeba, einem Touri-Städtchen direkt am Meer und Ausgangspunkt für Exkursionen in die Riesendünen. Zunächst besuchen wir die lange Mole an der
stürmischen See. Gut gestärkt in einer
maritimen Kneipe geht es dann mit Gegenwind in Richtung Dünen. Die bis zu 50 Meter hohen
Wanderdünen zwischen Ostsee und Łeba-See bilden den spektakulärsten Teil des
Slowinzischen Nationalparks. Er wurde bereits 1977 als Biosphärenreservat von der UNESCO anerkannt. Die Reste der alten deutschen Raketenrampen in Rąbka lassen wir rechts liegen, und ca. neun Kilometer westlich von Łeba erreichen wir endlich die großen Sandhaufen.
Hier erwartet uns sogar ein
bewachter Fahrradstellplatz. Nach einer guten halben Stunde
Dünenspaziergang sind wir durch den Sturm heftig 'gesandstrahlt' worden, und wir freuen uns auf die Dusche in der Unterkunft. Diesmal ist sie sogar heiß! In der Pension Eden, gleich nebenan, gibt es eine Art Privatrestaurant. Hier bekommen wir etwas zu Essen und außerdem gibt es einen Zapfhahn, bei dem wir für reichlich Durchfluss sorgen.
Schon am Morgen regnet es, als wir um acht Uhr den Tag mit geräuchertem Fisch zum Frühstück beginnen. Wir fahren in 'Vollschutz' los, doch wenn auch regengeschützt, kühlt der Wind mächtig durch. Einen kurzen Stopp legen wir in
Krokowa ein. Hier steht das
Anwesen von Graf von Krockow, dem Autor des Buches 'Reise nach Pommern'. Heute ist das 'Kaschubische Kulturzentrum Krokowa' eine europäische Begegnungsstätte und widmet sich der Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Unsere Mittagspause legen wir am nördlichsten Punkt Polens, in Jastrzębia Góra (Habichtsberg) ein. Nicht anders zu erwarten, gibt es hier natürlich auch einen
Leuchtturm, dem wir einen kurzen Besuch abstatten. Der an der kaschubischen Steilküste zwischen Buchenwäldern gelegene Touristenort ist trotz schlechten Wetters reichlich überlaufen. Vielleicht aber auch gerade deshalb, denn an Badeurlaub ist heute nicht zu denken.
Wir setzen unsere Fahrt über die 35km lange Halbinsel Hel (Hela) fort, bis zum gleichnamigen Ort an der Spitze. Inzwischen darf man auch das Militärgebiet kurz vor Hel mit dem Rad passieren, wenn auch die Schilder das Anhalten verbieten. Neu ist auch der
Radweg, der sich über weite Teile der Halbinsel hinzieht. In
Hel erweist sich die Unterkunftssuche schwieriger als erwartet, schließlich finden wir bei
'Admiral Nelson' ein Zimmer. Eine Landkarte aus den 30er Jahren im Treppenhaus zeugt vom entspannten Umgang mit der Geschichte. Beim Sunsetbier am Hafen müssen wir auf den eigentlich vorgeschriebenen Sonnenuntergang verzichten, aber wir wollen ja wegen des Wetters nicht abstinent werden. Bei
'Captain Morgan', einer der unzähligen und meist maritimen Kneipen, füllen wir die verbrauchten Kalorien wieder nach und lassen den Tag ausklingen.
Heute Vormittag machen wir mal etwas ganz Neues: Wir besuchen einen Leuchtturm! Der 42m hohe
Turm von Hel liegt unweit des Dorfes im Wald. Sein 1000 Watt
Leuchtfeuer strahlt bis zu 17 Seemeilen weit. Um nicht wieder die längste Sackgasse Polens zurückfahren zu müssen, suchen wir uns eine
Schiffsverbindung über das
Putziger Wiek. Eigentlich wollen wir nach Gdansk (Danzig), aber da die nächste Fähre nach Gdynia fährt, nehmen wir eben diese. Gerade noch rechtzeitig erreichen wir die 'Rubin' für die 70 Minuten dauernde Überfahrt. Im Hafen von Gdynia (Gdingen), einem der größten Polens, passieren wir das majestätische Segelschulschiff
'Dar Pomorza' sowie unzählige geschäftig hin- und herlaufende Menschen. In Richtung Danzig nehmen wir die Hauptstraße, was wir offiziell nicht dürfen. Ein neben einem 'Radfahren verboten' Schild stehender Polizist nimmt uns aber nur grinsend zur Kenntnis.
In Sopot (Zoppot) unterbrechen wir unsere Fahrt, um zusammen mit unseren Rädern (schiebend!) die mit über 500 Metern längste
Seebrücke Europas zu besuchen. Weiter geht es auf brandneuen Radwegen in Strandnähe durch den Wald nach Danzig. Die Jugendherberge ist schnell gefunden, leider ist sie voll. So nehmen wir gleich nebenan bei deutlich schlechterem Standard ein Zimmer zu 180 PLN im Dizzy Daisy Hostel, eigentlich einem Internat. Nun wird's aber Zeit für eine Stadtbesichtigung, schließlich sind wir nicht zum Spaß hier. Die nach dem Krieg weitgehend zerstörte
Innenstadt ist nahezu komplett originalgetreu wiederaufgebaut worden, eine einmalige Leistung. Im üblichen 'Schnellverfahren' besichtigen wir die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Mehr Zeit nehmen wir uns für die
Marienkirche, die als größte Backsteinkirche der Welt gilt. Von ihrem 78m hohen Turm haben wir ein prachtvolle
Aussicht auf die Altstadt. Natürlich statten wir auch dem
Krantor einen Besuch ab. Das Stadttor und heutige Wahrzeichen Danzigs diente ab dem 15. Jhdt. vor allem als riesiger Hafenkran. Das Abendessen nehmen wir in der 'Pirogania' ein, und kommen so in den Genuss von
Piroggen, einer der Nationalspeisen Polens.
Da uns der Tag mit Regen begrüßt, verzichten wir auf einen weiteren Altstadtrundgang und begeben uns auf die Reise nach Osten. Auf der autobahn-ähnlichen Ausfallstraße Nr 7 verlassen wir die Stadt. Eine auf der Karte verzeichnete Abkürzung gibt es offenbar nicht mehr, der Wachposten der Raffinerie am Ende der Straße kommentiert meine Landkarte nur kurz mit 'stara', also 'alt'. Bei Świbno treffe ich eine 'alte Bekannte' wieder, nämlich die Weichsel, die ich noch vom letzten Jahr aus Krakau in guter Erinnerung hatte. Wir queren den Weichseldurchstich zusammen mit einer ganzen Reihe Autos per
Fähre und folgen weiter der '501' parallel zur Ostsee. Hier, zwischen Mikoszewo und Sztutowo fährt auch der
'Jantar-Express', eine alte Schmalspurbahn, die sich bei Touristen offenbar großer Beliebtheit erfreut. Der kleine Ort Sztutowo hat allerdings einen anderen, traurigen Bekanntheitsgrad erlangt: Hier befand sich das KZ Stutthof, in dem während des Dritten Reiches neben Juden vor allem polnische Intellektuelle interniert und ermordet wurden.
Unmittelbar hinter dem Ort beginnt die Frische Nehrung, auf der wir nun etwa 20km überwiegend durch Wälder bis Krynica Morska fahren. Das Dorf ist ein typischer polnischer Touristenort. 'Das haben wir nun von der Globalisierung', denke ich mir, während ein scheinbar südamerikanischer Ureinwohner hier, kurz vor der russischen Grenze, mit Panflöte und Luxusverstärker 'Griechischer Wein' spielt. Wir suchen den Hafen auf, um uns nach einer Fähre über das Frische Haff zu erkundigen. Hier erfahren wir, dass die Fähre gerade vor einer Viertelstunde abgelegt hat. Genau diese Viertelstunde hatten wir am Morgen nach der vermeintlichen Abkürzung gesucht...
Da das nächste Schiff erst um 16:50, also in etwa drei Stunden fährt, verbringen wir die verbleibende Zeit in einem Restaurant. Es ist zwar nicht gerade gemütlich, aber wenigstens warm und trocken und die Musik gefällt uns auch. Über den schmalen Steg kommen wir mit unseren Fahrradtaschen kaum aufs Schiff, da fühlen wir uns an die Türen der Deutschen Bahn erinnert. Doch wenigstens hilft uns hier jemand beim Einsteigen. Nach 90 Minuten Überfahrt kommen wir in Frombork (Frauenburg) an. Die kleine Stadt wird von der riesigen
Kathedrale überragt, die im 16. Jhdt. einen berühmten Domverwalter hatte: Nikolaus Kopernikus. Offenbar war damals das Leben an diesem Ort auch nicht aufregender als jetzt, sodass Kopernikus lieber in die Sterne schaute. Seine Theorie, die Sonne sei der Mittelpunkt des Planetensystems, können wir heute nicht nachvollziehen, da es immer noch regnet. Obwohl das Angebot an Unterkünften ganz ordentlich ist, suchen wir eine Weile. Schließlich beziehen wir ein schönes Privatzimmer bei Lilia in der ulice Kapelańska.
Noch vor dem Frühstück besuchen wir die
Kathedrale. Sie erinnert eher an eine Kirchenburg, wie ich sie in Siebenbürgen kennengelernt hatte. Das Frühstück nehmen wir dann im Hotel Kopernik ein. Nach etwa 20km Fahrt wird es spannend: Wir kommen an der
russischen Grenze an. Eine Grenze, wie man sie in Mitteleuropa schon seit über 15 Jahren nicht mehr kennt. Sie zieht sich auf etwa 2 km hin, es gibt verschiedene Posten, bevor wir zur eigentlichen Grenzabfertigung kommen. Nach dem Ausfüllen der Migrationspapiere stempelt eine attraktive Blondine unsere Pässe ab. Das notwendige Visum hatten wir rechtzeitig zuhause beantragt. Die Zollbeamten winken uns nur durch. Geschafft! In nicht einmal 20 Minuten sind wir nach
Russland eingereist. Auf der qualitativ besten Straße, die wir auf der ganzen Tour haben, fahren wir jetzt mit Rückenwind durch Ostpreußen. Uns überholen dabei teils extrem teure Luxuskarossen, während wir an ärmlichen Bauerngehöften vorbeifahren. Nach exakt 800 Tourkilometern erreichen wir um 15:00 Uhr
Kaliningrad, das ehemalige Königsberg. Hier ziehen wir zunächst aus dem Bankautomaten im Hotel Kaliningrad ein paar Rubel, dann machen wir uns auf Unterkunftssuche. Wir hatten zuvor im Internet ein paar Privatunterkünfte und Pensionen recherchiert, die wir jetzt ausfindig machen wollen.
Die kyrillischen Straßenbezeichnungen sind gewöhnungsbedürftig. Doch die erste Straße finden wir schnell - nur gibt es hier kein Haus mit der angegebenen Nummer. Unsere zweite Wahl ist der
'Ratshof'. Als wir ihn etwas ratlos auf der Karte suchen, bietet uns eine Passantin ihre Hilfe an. Nachdem ich den Straßennamen nenne, zückt sie ihr Mobiltelefon, wählt eine Nummer und gibt es mir. Tatsächlich kann man mir in gebrochenem Englisch eine gute Wegbeschreibung liefern. So finden wir die gewünschte Adresse in einer ruhigen Wohngegend, aber auch hier gibt es absolut kleinen Hinweis auf eine Unterkunft. Wir klingeln einige Male und wollen schon weiterfahren, da erscheint ein Mann an der Tür. Er bestätigt uns, dass es sich hier um die besagte Pension handele. Nach einigem Zögern bittet er uns herein und bietet uns ein geräumiges Zimmer mit Bad an, fast schon eine kleine Wohnung. Die Verständigung ist einfach, da er etwas deutsch spricht. Offensichtlich ist man es hier nicht gewohnt, dass Fahrradtouristen direkt vor Ort auftauchen und sich die Unterkunft nicht formal vermitteln lassen. Unser Vermieter ist sehr freundlich, wir dürfen die Räder über Nacht im Flur parken und es gibt sogar Frühstück. Das Ganze kostet uns 20 Euro pro Person.
Nachdem wir uns frisch gemacht haben, geht es wieder zurück in die Stadt. Unterwegs kaufen wir ein Sunsetbier, bezeichnenderweise mit Namen
'Königsberg'. Diesmal tatsächlich beim Sonnenuntergang, genießen wir es direkt vor dem wiederaufgebauten
Königsberger Dom. Wir stellen fest, dass
'Cafe' hier die gängige Bezeichnung für ein Restaurant ist und wir finden ein solches am Prospekt Mira. Obwohl die Holsten-Brauerei ganz offensichtlich die Marktführerschaft übernommen hat, probieren wir doch lieber ein russisches Bier mit Namen 'Altshtadt'. Ein Stück weiter an der gleichen Straße finden auf einem großen Platz Wasserlichtspiele statt, dazu tönt uns der Radetzky-Marsch lautstark entgegen. In einer Seitenstraße finden wir einen kleinen Biergarten, in dem die Biersorte 'Tri Medwedja' (Drei Bären) ausgeschenkt wird. Wir probieren sie natürlich rein zu Studienzwecken.
Wir starten den Tag mit einem ausgezeichneten Frühstück im 'Ratshof'. Vor der Stadtbesichtigung wollen wir uns in Russland anmelden. Die Visums-Bedingungen verlangen nämlich eine 'offizielle' Einladung -die war von einem russischen Reisebüro vermittelt worden- sowie die Anmeldung im Land innerhalb von drei Tagen. Also suchen wir die uns genannte Adresse auf dem Stadtplan und dann in der Stadt. Nachdem wir zunächst in eine Schule stolpern, finden wir auf dem gleichen Grundstück einen
unauffälligen Eingang mit dem Namenszug des Reisebüros, ANJUTA. In dem Büro sind ein paar junge Damen mit einem älteren deutschen Pärchen beschäftigt, das sich ebenso wie wir anmelden will. Es gibt Probleme, weil ihre Reisepässe eingezogen werden sollen, um sie der Polizei vorzulegen. Die beiden wollen aber noch am gleichen Tag an einen anderen Ort im russischen Gebiet fahren. Während wir warten, wird uns klar, dass uns das gleiche Problem blühen würde. Und richtig, auch unsere Pässe will man haben. Mittlerweile spreche ich am Telefon mit einer deutschsprachigen Mitarbeiterin der Firma, die mir die Formalitäten erklärt. Als ich zu verstehen gebe, dass wir bereits morgen wieder Russland verlassen wollen, entspannt sich ihre Stimme: 'Dann ist das eigentlich kein Problem...' Ich erfahre, dass man sich bei einem Aufenthalt von weniger als drei Tagen gar nicht anmelden müsse. Somit will man unsere Pässe nicht sehen und die normalerweise übliche Anmeldegebühr entfällt ebenfalls.
Nun steht das touristische Programm auf dem Plan. Für unseren Kurzbesuch besteht dies mehr oder weniger nur aus dem
wiederaufgebauten Dom. Er wurde im Krieg so stark beschädigt, dass nur noch eine Ruine erhalten blieb. Entgegen fast aller anderen zerstörten Bauwerke der Stadt, wurde der Dom aber nach dem Krieg nicht komplett dem Erdboden gleichgemacht. Dies hat den Geschichtsbüchern zufolge auch mit dem
Grab Immanuel Kants an der Nordmauer zu tun, der von Russen wie Deutschen gleichermaßen verehrt wird. Nachdem 1991 erstmals wieder Ausländer in die Stadt durften, beschlossen nur wenig später russische und deutsche Stellen den Wiederaufbau des Doms. Stück für Stück erstrahlt er nun in alter Pracht.Mittags verlassen wir Kaliningrad gen Norden. Auf der Fahrt zur Kurischen Nehrung passieren wir den Flughafen,
verfallene Dörfer sowie Militärkasernen. In
Selenogradsk, dem ehemaligen Cranz, machen wir Pause an der kaum besuchten
Strandpromenade - welch ein Gegensatz zur polnischen Ostseeküste! Hier beginnt auch der
'Nationalpark Kurische Nehrung'. Die etwa 100km lange
Nehrung ist eigentlich eine Sandbank. Sie ist so einmalig, dass sie seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die Durchfahrt mit dem Auto ist kostenpflichtig, daher herrscht hier auch
kaum Verkehr. Wir fahren etwa 35km über die Nehrung bis zum Fischerdorf Rybatschi (Rossitten). Links und rechts der Nehrungsstraße ist es sehr sumpfig, an einigen Stellen ist die Straße sogar
überschwemmt.
In Rybatschi suchen wir die ornithologische Station auf. Das Pärchen vom Vormittag bei der Anmeldung hatte uns dies empfohlen. Hier lebe eine Deutsche, die wiederum eine alte Dame im Ort kennt, welche ihr Zimmer vermietet. Wir finden die Station in dem kleinen Ort schnell. Die uns geschilderte Frau ist zwar nicht mehr dort, eine andere hilft uns dafür weiter: Sie führt uns zum
Haus eines alten Mütterchens, die uns tatsächlich ihr
Zimmer vermietet. Später sehen wir, dass die alte Dame stattdessen selber in eine Art Baracke zieht. Eine Nachbarin hilft, die Stube in dem uralten Haus herzurichten. Zunächst müssen die vielen Kartoffeln beiseite geschafft werden, die in Flur und
Küche deponiert sind. Die Zeit überbrücken wir, indem wir im Ort Essen gehen, sowie in einem der kleinen Läden einkaufen, die alle bis 22 oder sogar 23 Uhr geöffnet sind. Zurück in der Unterkunft, wartet unsere Vermieterin schon auf uns. Obwohl sie sehr ärmlich lebt und gehbehindert ist, ist sie bester Laune und erzählt uns jede Menge. Leider verstehen wir nicht viel davon, sie spricht natürlich nur russisch.
Bevor wir uns herzlich von unserer
Vermieterin verabschieden, müssen wir ja noch bezahlen: Wir fragen also mit gestischer Unterstützung nach dem Preis. Ich bin froh, dass ich gleich die Zahl, die sie nennt, verstehe. In den meisten slawischen Sprachen heißt dvazet nämlich zwanzig. Doch dann kommt es: Sie will 20 Mark! Offenbar hat sich weder die Ablösung der D-Mark bis hierher herumgesprochen, noch die Tatsache, dass man hier inzwischen mit Rubel am besten bedient ist. Den 20-Euro-Schein, den wir der alten Dame geben, schaut sie zwar erst skeptisch an, gibt sich dann aber zufrieden. Das ist also schon mal geschafft, die nächste Hürde stellt das Frühstück dar: Wir fahren in das Restaurant, dass wir am Abend zuvor besucht haben, denn dort gibt es auch einen kleinen Hotelbetrieb. Zur Vereinfachung der Bestellung deuten wir einfach auf das Essen eines Gastes, ein leckeres Frühstück, so etwas wollen wir auch haben. Doch die Bedienung bringt nur die Karte, die allein fettige Pfannkuchen als Frühstück-Ersatz anbietet. Nach erneuter Anfrage macht man uns klar: Normales Frühstück gäbe es nicht für uns, das sei für die Hotelgäste abgezählt. Nach einigem Hin und Her bekommen wir aber doch zumindest etwas Brot.
Auf dem Weg zur Grenze machen wir Halt, um einen Blick auf die
menschenleere Ostseeküste zu werfen. An der Straße stehen ein paar Mädchen, die Bernsteinketten und Matroschkas
verkaufen. Die Straße wird immer schmaler und zugewachsener. Nach 15km erreichen wir die Grenze, welche sich auch hier auf fast drei Kilometer erstreckt. Dennoch haben wir bereits nach einer knappen Viertelstunde Russland verlassen. Den Litauern genügt ein kurzer Blick in unseren Pass und wir befahren wieder
EU-Gebiet. Kurz hinter der Grenze machen wir in
Nida (Nidden) eine ausgedehnte Pause. Im Hauptort der Kurischen Nehrung trifft man auf viele deutsche Touristen, aber man kann es dennoch nicht als überlaufen bezeichnen. Bis Juodkrantė fahren wir auf dem
Fahrradweg über die Nehrung. Dabei steht bei Pervalka wieder einmal eine
Dünenexkursion im Nagliai Naturreservat auf dem Programm. Auch diese
Dünen gehören zu den größten Europas. Am Ende der Nehrung, direkt an der Memelmündung, liegt Smiltynė. In diesem verträumten Dorf direkt gegenüber Klaipėda finden wir mit dem
Hotel Palva eine für unsere Verhältnisse recht noble Bleibe. Die Küche ist zwar bereits um 20:30 Uhr geschlossen, aber im nahegelegenen Restaurant können wir Hunger und Durst stillen.
Bis zur Fähre über die Memel sind es vom Hotel nur wenige hundert Meter. Die Fähre bringt uns direkt in die Altstadt von Klaipėda, der wir nur einen kurzen Blick widmen. Stattdessen machen wir einen Abstecher zum Skulpturenpark, den ich bereits auf meiner Reise vor vier Jahren besucht hatte. An der Küste entlang, teils sogar auf einem Radweg, fahren wir nun nordwärts nach Palanga. Der dezente Urlauberort besitzt ein Bernsteinmuseum in einem schönen Park. Gleich dahinter folgt wunderschöner Ostseestrand. Parallel zum Strand fahren wir durch Kiefernwälder zu unserem heutigen Zielort, Šventoji. Der nach dem kleinen, hier mündenden Fluss benannte Ort quillt geradezu über vor Urlaubertrubel. Wir kommen uns wie auf einem großen Jahrmarkt vor. Wie bereits ganz zu Anfang unserer Reise, haben wir auch hier Probleme, trotz großen Angebots eine Unterkunft zu bekommen. Selbst in Hotels will man uns nur für mindestens drei Tage aufnehmen, aber wir wollen ja nur eine Nacht bleiben. Nach beharrlicher Suche finden wir schließlich ein kleines, familiäres Hotel mit direktem Blick auf das bunte Treiben. Hier gibt es auch ein gutes Abendessen und danach sind wir pünktlich zum Sonnenuntergang mit einem Bier an der Ostsee.
Obwohl wir direkt 'auf dem Jahrmarkt' übernachtet haben, haben wir recht gut geschlafen. Das Frühstück nehmen wir in der Kellerbar ein. Bis zur lettischen Grenze sind es nur ein paar Kilometer. Hier fotografieren wir direkt am
Grenzübergang, das hatten wir uns an der russischen Grenze nicht getraut. Nun geht es 32 Kilometer bis Nīca durch die kurische Landschaft nahezu
schnurgeradeaus, ohne dass ein Dorf dazwischen liegt. In Nīca finden wir ein wunderschön gelegenes kleines Hotelrestaurant. Im
Garten speisen wir hervorragend für insgesamt 11,20 LVL, etwa 16 Euro. Wir verlassen unsere Route, um einen Schlenker durch Bernāti zu machen. In diesem Dorf finden wir zwar den in der Karte verzeichneten Leuchtturm nicht, überraschenderweise herrscht hier jedoch ein bedeutendes Angebot an Privatunterkünften. Unser Ziel liegt aber noch 15km weiter nordwärts.
Die lettische Hafenstadt
Liepāja ist die zweitgrößte Stadt des Landes. Zunächst suchen wir hier das Fährterminal auf, wo wir uns am späten Abend einfinden müssen. Wir finden zwar sofort die lange Mole und die
russisch-orthodoxe Kathedrale, unser Terminal jedoch erst im zweiten Anlauf. Nach einer Rundfahrt durch die angenehme Stadt suchen wir uns das gemütliche Restaurant 'Old Captain' in der Jūras iela für unser letztes Abendessen auf dem Festland aus. Es gibt zwar keine Steaks mehr, aber bei leckerem Essen und ebenso gutem Bier fällt das Warten bis zur Abfahrt der Fähre nicht schwer. Um Punkt 23:00 Uhr finden wir uns am Fährterminal ein. Das Abholen der Bord- und Kabinenkarten geht reibungslos, dann radeln wir zwischen den LKWs auf die
MS Urd. Wir beziehen eine 2-Bett-Kabine mit eigenem Bad, wesentlich nobler als bei meiner Überfahrt nach Klaipėda vier Jahre zuvor, aber auch ein ganzes Stück teurer. Auf die erfolgreiche Einschiffung stoßen wir an der Bar an, bevor wir uns gegen zwei Uhr zur Ruhe begeben.
Nach zwei Wochen steht uns heute erstmals ein fahrradfreier Tag bevor. Und der lässt sich sogar dank des sonnigen Wetters gut aushalten. Die Zeitumstellung zurück zur mitteleuropäischen Sommerzeit erlaubt uns eine Stunde länger zu schlafen. Der Tag beginnt mit einem reichhaltigen Frühstück. Obwohl wir schon gute Esser sind, staunen wir, welche Mengen die LKW-Fahrer verdrücken können. Den Vormittag verbringen wir bei strahlendem Sonnenschein weitgehend lesend an Deck, Zum Mittag, wie zu allen Mahlzeiten, wird man per Durchsage in den Speisesaal aufgefordert. Die Verpflegung ist wirklich sehr gut. Gegen sieben Uhr am Abend passieren wir die Insel Bornholm. Der Sonnenuntergang wird wie gewohnt mit einem Sunsetbier zelebriert, auf dem Meer ist das besonders schön.
Um sechs Uhr morgens erreichen wir Warnemünde. Zielstrebig fahren wir die 15 km nach Rostock, um gerade noch den Zug um kurz nach sieben nach Hamburg zu bekommen. Viertel vor zehn endet die Reise schließlich da, wo sie vierzehn Tage zuvor begonnen hat, am Hamburger Hauptbahnhof.