Gunnar bringt uns wie immer zuverlässig zum Flughafen. Das Prozedere kennen wir aus dem letzten Jahr, als wir ebenfalls nach Priština
geflogen sind. Damals haben wir bereits wenige Stunden nach der Ankunft im
Kosovo das Land wieder nach Süden hin verlassen, diesmal wollen wir etwas länger bleiben. Zunächst geht es in die kosovarische Hauptstadt. Die 16 Kilometer vom Flughafen in die Innenstadt sind schnell dahingerollt. Ebenso problemlos finden wir unsere vorgebuchte Unterkunft, das
Hotel Afa. Es besitzt nicht nur einen hübschen
Innenhof, sondern weist insgesamt einen sehr guten Standard auf.
In der jungen Hauptstadt sind die Gegensätze unübersehbar: Im Zentrum liegt die geschäftige
Fußgängerzone mit
neuen Hotels und dem
Nationaltheater. Unweit davon, neben der
Universitätsbibliothek mit ihrer eigenwilligen Architektur, steht traurig der Rohbau der orthodoxen
Erlöserkirche. Sie wurde in den neunziger Jahren von Serbien errichtet und steht seit der de facto Unabhängigkeit des Kosovo als Bauruine leer. Als Symbol serbischer Besatzung wird sie im Kosovo abgelehnt. Stattdessen finden wir immer wieder
Statements auf Mauern, die die vollständige Anerkennung des Kosovo, sowie eine
Annäherung an die EU einfordern.
Nach einem exzellenten Frühstück brechen wir um neun Uhr auf. Wir passieren den monumentalen
'Palast der Jugend und des Sports' auf dem Weg aus der Stadt. Westwärts fahren wir auf kleinen Straßen durch das Land. Dabei finden wir uns kurz hinter Priština in einem riesigen Industriegebiet mit
Braunkohletagebau wieder. Das angeschlossene
Kohlekraftwerk wurde von der Weltbank als 'die schlimmste punktuelle Quelle von Umweltverschmutzung in Europa' bezeichnet. Tatsächlich gehört das kleine Kosovo zu den Ländern mit den größten Braunkohlevorkommen weltweit.
Hinter dem Tagebau ist die Landschaft
grün und hügelig. Bis Drenas führt eine gute Straße, dahinter wählen wir eine kleine Straße, die schließlich zu einem
Schotterweg mutiert und durch etliche
Pfützen führt. Wir sind froh, bei Kijevë die Hauptstraße zu erreichen, auch wenn hier wieder Autoverkehr herrscht. Es bleibt hügelig und wir werden hungrig. Kurz hinter dem Abzweiger nach Klina finden wir ein Restaurant direkt an der Hauptstraße, das außer von uns nur von italienischen KFOR-Soldaten frequentiert wird. Erneut wählen wir eine kleine, aber diesmal gut befahrbare Straße über die Dörfer. Wie wir es bereits vor einem Jahr in Mazedonien erlebt haben, werden auch hier auf den Friedhöfen die Verstorbenen
detailgetreu auf den Grabsteinen abgebildet. Soldaten sind dabei zum Teil
mit Maschinengewehren dargestellt. Die ehemalige 'Befreiungsarmee des Kosovo', UÇK, wird immer noch verehrt. Die tiefe Spaltung der kosovarischen Gesellschaft wird auch dadurch deutlich, dass Kinder der serbischen Minderheit immer noch von
KFOR-Soldaten geschützt zur Schule, bzw. zur Kirche gefahren werden müssen, wie wir von den italienischen Soldaten erfahren. Die Italiener sind eine der fünf KFOR-Hauptmächte und für den westlichen Sektor des Kosovo verantwortlich.
Am Nachmittag erreichen wir Peja, das Zentrum im Westen des Landes. Wir hatten geplant, nun das Rugova-Tal zu besuchen und dann durch das Dinarische Gebirge über Montenegro und Bosnien-Herzegowina bis nach Kroatien zu fahren. Der Wetterbericht verhieß bereits vor unserer Abreise nichts Gutes, doch jetzt hat er sich noch einmal dramatisch verschlechtert: Lang anhaltende Niederschläge, Kälte, und sogar Schnee in den Bergen werden vorhergesagt. Die vor uns liegenden Passstraßen bei Schnee und Eis zu fahren, erscheint uns nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich. Ein neuer Plan muss her. Zunächst verständigen wir uns darauf, nach Süden abzubiegen und in der Stadt Deçan eine Unterkunft zu suchen. Das klappt mit dem
Hotel 'Rio de Janeiro' auch ganz gut. Am Abend werfen wir dann unsere ursprünglichen Reisepläne vollends über den Haufen und beschließen stattdessen, durch Albanien nach Süden zu fahren.
Der 'versprochene' Dauerregen ist da. Auf einer wenig befahrenen, aber gut ausgebauten Straße fahren wir zur albanischen Grenze. Der
Grenzübergang liegt auf einem knapp 600m hohen Pass, das ist niedriger als unser heutiger Abfahrtsort Deçan. An der Grenze sind wir fast alleine, und die Einreise nach Albanien verläuft erwartungsgemäß ohne Probleme. Durch das reizvolle, aber leider verregnete Tal des Flusses
Valbona rollen wir in den Ort Fiërza hinab, wo die Valbona in den
Drin mündet. Von hier führt keine Straße mehr nach Westen, aber es soll eine Fähre über den zum Koman-Stausee angestauten Drin geben.
Der Ort ist übersichtlich und drei Kilometer weiter finden wir auch die Fähre. Sie soll um sechs Uhr morgens am nächsten Tag fahren. Uns wird eine Art Notunterkunft an der Fähre angeboten, doch wir fahren wieder in den Ort zurück, um erst einmal Mittag zu essen. Im Restaurant erzählen uns ein paar Jungen, dass es ein Gästehaus im Ort gäbe, aber der Wirt gerade nicht da sei. Nach dem Essen finden wir die unscheinbare
Unterkunft und treffen dort auch auf den Hausherren. Albanisches Geld haben wir zwar noch nicht, aber Euros werden gerne genommen. So erhalten wir für 20€ ein einfaches, aber ordentliches
Appartement mit zwei Schlafzimmern. Das Beste daran ist der
Heizlüfter, den man bei den niedrigen Temperaturen gut brauchen kann. Zum Abendessen kaufen wir im Dorfladen Wurst, Käse, Brot und Bier ein und ziehen uns damit in unser Appartement zurück.
Um kurz vor fünf Uhr stehen wir auf, denn wir wollen auf keinen Fall die Fähre verpassen. Der Weg zur Fähre führt über eine sehr schlechte Straße, immer noch regnet es durchgehend. Beim Fährmann erhalten wir einen Kaffee. Über
Geröll müssen wir zunächst über ein größeres Schiff zu unserer Personenfähre, die allerdings eher eine Art Schute mit aufgeschweißtem
Bus-Oberteil ist. Es sieht lustig aus, wie der Kapitän auf dem Fahrersitz das Schiff mit dem großen Buslenkrad navigiert. Auf der Fähre kommen wir mit einem Schweizer Pärchen ins Gespräch. Die Frau arbeitet im Entwicklungshilfeministerium in Tirana und kann uns einiges über das Land erzählen. Die Fahrt führt durch
wunderschöne Landschaft über den langgezogenen,
fjordartigen Stausee in der tiefeingeschnittenen
Schlucht des Drin. Solche Landschaft haben wir in Europa noch nie gesehen. Leider hält uns der Regen die Treue, und so bleiben wir die meiste Zeit
im 'Bus'. Mehrfach legt die Fähre am Ufer an. Wege sind nicht zu sehen, doch von irgendwoher kommen Menschen die Berge hinab und sie haben in der Regel Lebensmittel und
andere Güter dabei. Viele Waren wechseln bereits auf der Fähre ihren Besitzer.
Nach knapp drei Stunden kommen wir an der
Staumauer von Koman an. Von hier aus führt eine Straße durch die Schlucht des Drin nach Shkodra. Die größte Stadt im Norden Albaniens haben wir als Tagesziel auserkoren, um die Planung für die weitere Reise zu machen. Wolfgang braucht zudem neue Bremsbeläge, die bei dem vielen Regen in den Bergen arg gelitten haben. Aus Sorge, seine Felge zu ramponieren, nimmt er samt Fahrrad den letzten Platz in einem der
Kleinbusse ein, die die Fährpassagiere das Tal hinab bringen. Ich fahre stattdessen die gut 55 Kilometer per Fahrrad. Die
einzigartige Landschaft setzt sich fort. Die Straße ist in schlechtem Zustand, doch als die Shuttlebusse weg sind, bin ich so gut wie allein auf der Straße und kann ihre ganze Breite ausnutzen, um den Schlaglöchern zu entgehen. Außer mir sind nur ein paar
Ziegen und ein
Schwein unterwegs. Ich genieße die sensationellen Ausblicke in das
Drin-Tal und komme recht gut voran. Am unteren Ende wird der
See immer breiter.
Bereits um kurz nach 13 Uhr erreiche ich Shkodra. Hier haben wir uns an der
Ebu-Bekr-Moschee verabredet. Die riesige Moschee in der Stadtmitte ist unübersehbar, wir kennen sie noch von unserem Besuch drei Jahre zuvor. Wolfgang hat inzwischen nicht nur eine
Unterkunft organisiert, sondern auch neue Bremsbeläge gekauft. Nach dem Mittagessen besuchen wir interessiert das 'EU-Info-Büro' und lassen uns die Arbeit dort erklären. Wir holen Geld und kaufen Landkarten für die nun angedachte Reise durch Albanien. Vor allem aber planen wir in einem Internet Café unsere weitere Route. Als Rückflugort wählen wir die griechische Insel Korfu, von dort gibt es Direktflüge nach Hamburg. Wie vor drei Jahren nehmen wir das Abendessen im hervorragenden Restaurant 'Vila Bekteshi' ein, es ist immer noch so gut wie damals.
Am Vormittag geht es durch die nordalbanische Tiefebene. Nach dem wir die
Rozafa-Festung südlich von Shkodra passiert haben, fahren wir etwa 50km nach Süden bei leichtem Gegenwind. Bei Zejmen fahren wir von der Hauptstraße ab und wenig später finden wir ein nettes Restaurant. Es gibt
gegrillte Rippchen, Pommes und einen großen Salatteller. Ein aufgeweckter Junge hilft uns bei der Bestellung und entpuppt sich auch als einer der wenigen Albaner, der mit einer Landkarte umgehen kann. Wir fahren nun wieder ostwärts in die Berge, dabei geht es anfangs immer am Fluss
Mat entlang. Die Fahrt ist nicht minder reizvoll als die durch das Drintal tags zuvor. Auch der Mat zwängt sich durch eine
enge Schlucht und auch er wurde mehrfach zur Elektrizitätsgewinnung
gestaut. Vor allem die Fahrt unterhalb des
Shkopet-Stausees und am Stausee selber ist landschaftlich sehr beeindruckend. Die Berggipfel links und rechts der Schlucht liegen bis zu 1000m über dem See. Die
Hängebrücke über den See ist wohl nur für Wagemutige. Am weiter oben liegenden Ulza-Stausee kann man nicht entlang fahren, so müssen wir einen Exkurs durch die Berge machen und können
von oben auf den Stausee blicken.
Die engen Schluchten sind dem
hügeligen Bergland Mittalalbaniens gewichen. Wir erreichen schließlich die Kleinstadt
Burrel. Sie wurde – so lesen wir später – im Zweiten Weltkrieg massiv zerstört, sodass heutzutage kaum historische Gebäude vorhanden sind. Im kommunistischen Albanien wurde die Stadt dann wegen ihres berüchtigten Gefängnisses bekannt. Glücklicherweise finden wir einen besseren Schlafplatz, es ist das familiär geführte, kleine Hotel 'Vila Bruci'. Die ganze Familie begrüßt uns bei der
Ankunft. Die Kinder sprechen gut Englisch, was die Kommunikation erleichtert. Vom Hotel aus bietet sich ein schöner Blick in die Landschaft nach Norden. Nach einem kurzen Stadtbummel werden wir im Hotel mit einem Abendessen bestens verpflegt.
Die ersten 20km fahren wir weiter am
Mat entlang. Immer wieder gibt es unvermittelt Streckenabschnitte
ohne Asphalt. Hinter Klos folgen wir der SH-6
in die Berge. Erstaunlicherweise ist die Straße hier von deutlich besserer Qualität. Von etwa 270m Flusshöhe geht es nun im strömenden Regen auf den 842m hohen
Bualli-Pass. Ober wärmen wir uns mit einem Tee auf. Der Pass ist die Wasserscheide zwischen Mat und Drin und glücklicherweise bleiben die meisten
Regenwolken an der Westseite hängen. Es geht nun sanft bergab und wir suchen ein kleines Restaurant zum Mittagessen auf. Zwei Forellen werden für uns
frisch zubereitet. Wir treffen nun wieder auf den
Drin, genauer gesagt, den Schwarzen Drin. Es ist einer der Zuflüsse des Drin, auf dem wir zwei Tage zuvor mit dem Schiff gefahren sind. Auf einem schlechten Straßenabschnitt werden wir von einem Reporter des albanischen Fernsehens angehalten. Er möchte, dass wir in die Kamera sagen, wie schlecht doch die Straßen in Albanien seien. Obwohl diese Aussage zum Teil nicht falsch wäre, tun wir ihm den Gefallen nicht. Wir wollen nicht, dass unsere Meinung über Albanien auf die Straßenqualität reduziert wird.
Wir haben jetzt Albanien in knapp anderthalb Tagen von West nach Ost durchfahren und stehen an der
mazedonischen Grenze. Es ist nach 2009 und 2011 unser dritter Besuch auf einer Radreise in diesem Land. So fühlen wir uns auch direkt heimisch, als wir in die Kleinstadt Debar fahren. Umgewöhnung von Albanien ist trotzdem nicht notwendig: Etwa dreiviertel der Bevölkerung von Debar sind ethnische Albaner. Dies erklärt das
Denkmal für den albanischen Fürsten und Nationalhelden Skanderbeg im Ort, sowie die Verwendung der lateinischen Schrift, wohingegen in Mazedonien ansonsten kyrillisch geschrieben wird. In Debar finden wir das hübsche
Hotel Venec, das so neu ist, dass es noch nicht einmal ein Hotel-Schild besitzt. Wir sind wohl die ersten Gäste. Die Einzelzimmer kosten stolze 30€ pro Person, das Willkommensbier gibt es dafür geschenkt. Beim abendlichen Stadtbummel treffen wir auf einen Einheimischen, der inzwischen in Kassel lebt. Er macht aus seiner Frustration über die mangelnden Zukunftsaussichten in Mazedonien keinen Hehl. Die kulinarische Landschaft ist in Debar von Pizzerien bestimmt, und auch wir wählen mit dem Restaurant Afrona eine solche.
Der Ort Debar besitzt nur wenige Sehenswürdigkeiten, ist aber durchaus nicht hässlich. Zu den sehenswerten Bauwerken gehören der
Uhrturm sowie einige
Moscheen aus osmanischer Zeit. Das sehenswerteste ist aber der zum
Debarsee aufgestaute Schwarze Drin und die Natur drum herum. Wir fahren durch die malerische Landschaft südwärts oberhalb des
Sees entlang und haben immer wieder traumhafte Ausblicke auf den See und die
schneebedeckten Berge. Hinter dem Stausee führt die Straße R1201 direkt am
Schwarzen Drin entlang, was nicht weniger reizvoll ist. Erstmals treffen wir auf dieser Reise andere Radreisende: Es ist das holländische Pärchen Johan und Heleen, die über den Balkan nach Norden fahren. Sie wollen weiter nach Montenegro und Bosnien-Herzegowina, so überlasse ich ihnen meine Landkarten dieser Länder, die ich ja auf dieser Tour nicht mehr brauchen werde. Weiter südlich ist der
Schwarze Drin erneut gestaut, diesmal zum
Globočicasee. Kurz hinter dem See, bei Velešta, finden wir ein schönes, neues
Restaurant im Grünen mit einem üppigen Essen, genau das Richtige für uns.
In Struga erreichen wir den
Ohridsee. Hier ist uns aber zu viel Trubel, so fahren wir direkt
am See weiter bis in den Ort Radožda, der unmittelbar an der albanischen Grenze liegt. Wir hatten leise Hoffnungen, dass man am See entlang weiter nach Albanien einreisen kann, stehen aber am Ende der Straße vor einem verschlossenen
Grenztor. So müssen wir über den offiziellen Grenzübergang, der 300m höher auf dem Kafasan-Pass liegt. Aber nicht mehr heute! Wir bleiben in Radožda, und dafür gibt es gute Gründe. Das ist zum einen die schöne, ruhige Lage
direkt am See. Zum anderen ist es die in den Berg geschlagene
Felsenkapelle des Erzengels Michael, die wir besuchen, nachdem wir uns in die einladende
Pension 'Vila Radožda' einquartiert haben. Das Abendessen nehmen wir in unserer Pension ein – natürlich gibt es Fisch aus dem Ohridsee.
Der Tag beginnt mit einem
Frühstück auf der Terrasse direkt am See in der Sonne – besser geht es nicht. Wir fahren zum Kafasan-Pass hoch, der auf Albanisch 'Qafë Thanë' heißt und im Deutschen den Namen 'Kornelkirschen-Pass' trägt. In
Albanien geht es direkt wieder an den See
hinunter. Die Strecke an der Westseite des
Sees bis Pogradec ist uns vertraut, wir haben sie drei Jahre zuvor in umgekehrter Richtung befahren. Auch die
Minibunker und die
Esel am Straßenrand 'erkennen' wir wieder. Hinter Pogradec fahren wir weiter nach Süden
in die Berge. Beim Mittagessen werden wir nach unseren Routenplänen gefragt. Der Kellner winkt ab. Die Straße durch das Devoll-Tal sei mit Fahrrädern nicht befahrbar. Wirklich nicht? Wir wollen zumindest einmal schauen…
In Maliq biegen wir nach Westen in das
Devoll-Tal ab. Zunächst sieht die Straße noch gut aus. Das bleibt auch für etwa 16km so, doch bei Lozhan ist Schluss, und der Asphaltpfad weicht einer
Schotterpiste. Die
Landschaft wird aber nun immer atemberaubender. Der Devoll hat sich durch eine tiefe
Schlucht gegraben und
rauscht neben uns dahin. Hin und wieder gehen
Pfade von der Straße ab, doch irgendeine Art von Zivilisation ist nicht erkennbar. Obwohl es in Summe deutlich bergab geht, kommen wir auf der
schlechten Straße nur im Schritttempo voran. Das stört uns zunächst nicht, denn wir sind gefangen von der
Landschaft. Doch der Tag geht langsam zur Neige, und in der
Einsamkeit gibt es natürlich keine Unterkünfte. Der nächste größere Ort ist Gramsh, uns wird klar, dass wir ihn heute erreichen müssen. Die
Steine auf dem Weg werden immer größer und manchmal müssen wir sogar aus den Bergen kommende
Bäche durchqueren. Ein Hirte, den wir auf die Qualität der Straße ansprechen, gibt uns zu verstehen, dass die Straße demnächst besser wird. Dies ist nicht der Fall – wahrscheinlich meinte er nicht 'in einigen Kilometern', sondern 'in einigen Jahren'. Als die
Dämmerung einsetzt muss Plan B her, denn bei Dunkelheit wollen hier nicht fahren. Zu leicht könnte man einen Stein oder ein Loch auf dem Weg übersehen. Es fahren fast keine Autos durch das Devoll-Tal. Nun kommt aber ein Pick-up, den wir kurzerhand anhalten. Es sind zwei Vermessungsingenieure, die uns bereitwillig nach Gramsh mitnehmen. Selbst mit dem Auto brauchen wir für die gut 20km deutlich mehr als eine Stunde. Am Hotel 'Tomorri' setzen sie uns ab, auch sie wollen hier bleiben. Gerne hätten wir uns später mit einem Bier revanchiert, leider sehen wir sie am Abend nicht mehr. Zum Abschluss des Tages gibt es für uns ein gutes Abendessen und danach das Finale der Champions League im Fernsehen.
Unser Hotel hat seinen Namen aus gutem Grunde: Der 2415m hohe
Tomorri ist von Gramsh aus gut zu sehen, er gilt in Albanien als heiliger Berg. Wir wollen heute kein Risiko eingehen und Schotterwege vermeiden, auch wenn die Strecke länger ist. Mit 122km wird es auch die zweitlängste Etappe der Reise werden. Als Ziel haben wir uns Berat ausgesucht, eine der Top Sehenswürdigkeiten Albaniens. Fast den ganzen Tag sehen wir den Tomorri, das liegt neben seiner exponierten Lage auch an dem wolkenlosen Himmel. Wir folgen zunächst weiter dem Devoll nach Nordwesten, der hier aufgestaut ist. Immer wieder begegnen dem 'albanischen Nationaltier'. Gemeint ist aber nicht der
Doppeladler auf der Flagge, sondern die vielen
Esel, die überall im Land anzutreffen sind. Sie werden häufig als Lasttier eingesetzt. Auch
Pferd und Wagen sind in dieser Gegend nicht ungewöhnlich. Bei Papër erreichen wir die Hauptstraße SH-7, die haben wir bereits vor drei Jahren befahren. Wir fahren auf ihr knapp 30km durch das
Shkumbin-Tal westwärts. In Rrogozhina ändern wir abermals die Richtung, nun geht es nach Südosten. Auf der als Autobahn ausgebauten
SH-4 fahren wir bis Lushnja. Wir behalten danach die Richtung bis zu unserem Ziel in Berat bei. Unterwegs machen wir eine
Bierpause am Fluss Osum.
Trotz (oder vielleicht wegen) der Auswahl an Unterkünften dauert es eine Weile, bis wir uns für das
Hotel Palma direkt am Osum entscheiden. Das Abendessen gibt es auf dem Dach des Hotels. Beim Blick vom
Flussufer auf das Viertel Mangalem wird offensichtlich, warum Berat auch als 'die Stadt der tausend Fenster' bezeichnet wird.
Bevor wir weiterfahren, wollen wir uns heute Berat anschauen. Die Stadt gilt nicht umsonst als eine der schönsten des Landes und wird seit 2008 als UNESCO-Weltkulturerbe gelistet. Dies gilt für die Stadtviertel Gorica, Mangalem und Kalaja. Die beiden letztgenannten schauen wir uns heute genauer an. In
Mangalem stehen die dichtgedrängten, kleinen Häuer mit den großen Fenstern, denen Berat seinen Beinamen verdankt. Dazwischen stehen einige Moscheen, gleich am Anfang die
Junggesellenmoschee mit
Ornamenten an den Außenwänden. Weiter oben liegt das Viertel Kalaja um die Ruinen der
Burgfestung herum. Neben kleinen
Häusern aus Naturstein stehen hier auch ein paar kleine Kirchen und Kapellen. Die prominenteste ist die
Dreifaltigkeitskirche, von der man einen schönen Blick in das
Osum-Tal hat.
Um die Fahrt nach Süden fortzusetzen, müssen wir erstmal einige Kilometer zurückfahren. Der Wind dreht zu unseren Gunsten. Die Fahrt ist eher unspektakulär. Wir passieren ein
sozialistisches Denkmal und ein Haus in Form eines großen
Schiffes. Bei Patos stinkt es. Hier in der Myzeqe-Ebene liegt das größte
Ölfeld an Land in Europa. Es wird vom staatlichen Unternehmen Albpetrol ausgebeutet, wobei es ganz offensichtlich zu starken Umweltverschmutzungen kommt. Wir biegen erneut nach Südosten ab und wagen uns wieder einmal auf eine kleine Straße. Diese ist jedoch gut asphaltiert. Am späten Nachmittag erreichen wir Ballsh. Den Hinweis eines Einheimischen verstehen wir so, dass es in unserer Richtung eine Unterkunft gebe. Wir glauben das mal, obwohl Wunschdenken in Albanien weit verbreitet zu sein scheint. Es wird nun immer
hügeliger. Kurz vor Fratar, mitten im Nichts, finden wir ein kleines
Restaurant. Hier fragen wir erneut, und zu unserer Überraschung wird uns direkt ein Zimmer angeboten. Es handelt sich um ein Privatzimmer der Besitzer, auch das private Bad dürfen wir benutzen. Nachdem wir uns frisch gemacht haben, finden wir uns zum Abendessen ein. Eine erneute Überraschung steht für uns parat: Milan, die albanische Bedienung, spricht uns auf Deutsch an, und ist erfreut, die Sprache praktizieren zu können. Seiner Brieffreundin aus Husum zuliebe hatte er Deutsch gelernt, nun erzählt er uns von seiner Fernbeziehung.
Wir fahren weiter durch die Berge bis zur Hauptstraße. Doch die wird ihrem Namen nicht gerecht, immer wieder gibt es Abschnitte mit
asphaltloser Holperpiste. Die Baumaschinen am Straßenrand lassen hoffen, dass sich dies bald ändern wird. Bis Tepelena fahren wir nun im Tal des Flusses
Vjosa. In der Kleinstadt Tepelena wird der osmanische Herrscher
Ali Pascha verehrt, der hier Mitte des 18. Jhdt. geboren wurde. Südlich der Stadt mündet der Drino, dem wir nun durch die
Dropull-Ebene weiter bis Gjirokastra folgen. Wir passieren den Karst-Wasserfall
'Uji i Ftohtë' an dem sogar kommerziell Mineralwasser abgezapft wird. Da wir es heute nicht so eilig haben, gönnen wir uns eine Pause am
Viroit-See kurz vor Gjirokastra.
Gjirokastra ist eine der ältesten Städte Albanien und steht seit 2005 auf der UNESCO-Welterbeliste. Dies liegt, ähnlich wie bei Berat, am geschlossenen osmanischen Stadtbild der Altstadt. Auf dem Weg in die Altstadt werden wir von einem Mann abgefangen, der uns Zimmer anbietet. Wir schauen uns das einmal an – und werden nicht enttäuscht: Das
Kotoni B&B entpuppt sich als eine der besten Unterkünfte der Reise. Die netten Wirtsleute empfangen uns mit einem Kaffee und waschen sogar unsere Trikots, während wir einen Altstadtspaziergang machen. Die Zimmer sind liebevoll eingerichtet und als Krönung erhalten unsere Räder einen
Platz auf dem Sofa im Frühstücksraum.
Die
Festungsanlage von Gjirokastra wurde ursprünglich im 12. Jhdt errichtet. Wir besuchen den
Uhrturm, die
Artillerie-Galerie und das
amerikanische Militärflugzeug, das 1957 in Albanien zur Landung gezwungen und seitdem hier ausgestellt wird. Ein gutes Restaurant zu finden ist in diesem touristischen Ort überhaupt nicht schwer. Unsere Unterkunft können wir auch von weitem leicht ausmachen – es hängen ja unsere
Trikots weithin sichtbar auf der Terrasse.
Beim Frühstück geht es international zu. Wir treffen auf Gäste aus der Schweiz und aus Israel. Nach etwa 20 Kilometer durch die Dropull-Ebene biegen wir bei Jorgucat nach rechts auf die
SH-78 ab, die uns auf den 572m hohen
Muzina-Pass führt. Oben treffen wir eine Gruppe belgischer Motorradfahrer, die wir schon kennen – wir hatten sie vier Tage zuvor an der mazedonisch-albanischen Grenze getroffen. Kurz hinter dem Pass, aber 400m tiefer, steht eine Natursehenswürdigkeit auf dem Programm:
'Syri i Kaltër', zu Deutsch: 'Das blaue Auge'. So heißt die
Karstquelle, die mit 6m³ pro Sekunde als wasserreichste Quelle Albaniens gilt. Die tatsächlich tiefblaue Quelle liegt reizvoll in bewaldeter Umgebung. Da wir zur Mittagszeit eintreffen, kommt uns das angeschlossene
Restaurant gerade recht.
Zur Hafenstadt
Saranda ist es nun nicht mehr weit. Der Badeort am Ionischen Meer soll unsere letzte Station in Albanien werden. Die mit vier- bis fünfstöckigen Häusern gesäumte
Promenade an der Bucht übt zwar keinen besonderen Reiz auf uns auf, sie liegt aber unweit vom Hafen, und nach den Tagen im Landesinneren ist
Meerblick mit Palmen ja auch nicht schlecht. Wir wählen also eines der vielen
Hotels, nachdem wir am Hafen die Abfahrtszeiten der Fähre nach Korfu geprüft haben.
Morgens lassen wir uns Zeit, denn die Fähre soll erst um 13 Uhr ablegen. So können wir das Frühstück ausgiebig genießen, das hier wirklich hervorragend ist. Anschließend machen wir uns in einem Internetcafé über Korfu schlau, denn wir hatten unser Reiseziel ja erst unterwegs bestimmt. Beim Einsteigen in die
Fähre sollen die Räder draußen stehen bleiben. Das gefällt uns nicht, und schließlich dürfen sie doch selber verladen. Die
Schnellfähre braucht nur gut eine halbe Stunde nach Korfu. Kurioserweise müssen wir die Zeit vorstellen, obwohl wir nach Westen fahren. Griechenland, und somit auch
Korfu, liegt im Gegensatz zu Albanien in der Osteuropäischen Zeitzone.
Am Fährhafen von Korfu erstehen wir einen Plan der Insel und ein Mittagessen. Nun fahren wir auf kleinen Straßen über die hügelige Insel nach Nordwesten. Dabei müssen wir einen 330m hohen Höhenzug überwinden. Das
üppige Grün im Landesinneren und die
Blumenpracht an den Straßen gefallen uns besonders gut. Auch die Griechenland-typischen
'Proskinitaria' Minikapellen sehen wir hier wieder. In Agios Stefanos genießen wir zunächst die Aussicht am
Cape Kefali, dem westlichsten Zipfel der Insel, bevor wir uns im Ort eine
Unterkunft suchen. In der gegenüberliegenden
Taverne lassen wir den Tag ausklingen. Uns gelingt hier ein
Sunsetbier, und von der Idee, an besonders schönen Stellen bei Sonnenuntergang ein Bier zu trinken und dies zu dokumentieren ist auch der Wirt begeistert. Auch beim Kellner können wir punkten: Er kommt aus Albanien und ist von unserer Reise fasziniert.
Heute fahren wir um die nordöstliche Spitze der Insel herum. Hierbei können uns weder die vielen kleinen Steigungen, noch eine
Geröll-Straßensperre aufhalten. Wir machen einen Abstecher nach Sidari, um Geld zu holen. Doch der Geldautomat in
Kniehöhe ist für einen Zweimetermann wie Wolfgang eine echte Herausforderung. In Roda verlassen wir die Hauptstraße, um ein Stück direkt
am Meer zu fahren. Ebenfalls unmittelbar am Meer gelegen, bietet sich der kleine Ort Kassiopi für eine
Mittagspause an.
Um den Pantokrator, den höchsten Berg Korfus, geht es am Nachmittag weiter nach Süden. Auch hier geht es ständig auf und ab. Über die nur zwei Kilometer breite Meerenge
'Straße von Korfu' können wir nach Albanien blicken. Am späten Nachmittag erreichen wir
Korfu-Stadt, die Hauptstadt der Insel, auch Kerkyra genannt. Die Auswahl an Unterkünften in der Altstadt ist überraschend gering. Nachdem das erst Hotel noch nicht fertig ist und das zweite ausgebucht, bleibt nur noch das
Arcadion Hotel an einem belebten Platz, dennoch ist es keine schlechte Wahl. Wir machen einen Bummel durch die
Altstadt, die einen morbiden Charme verströmt. Im Jahr 2007 wurde sie in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Ein Restaurant zu finden ist wiederum einfach. Natürlich kommen wir auch hier nicht am typisch griechischen Honig-Joghurt und dem obligatorischen Ouzo vorbei.
Genau gegenüber von unserem Hotel liegt die
alte venezianische Festung von Korfu-Stadt, die wir an unserem letzten Reisetag besuchen. Sie wurde im 16. Jhdt.
gebaut und gilt heute als Wahrzeichen der Stadt. Von der
Aussichtsplattform in 72 Metern Höhe hat man einen
weiten Blick auf die Stadt und die Umgebung. Etwa fünf Kilometer weiter südlich liegt mit der
Klosterinsel Vlacherna eine weitere Sehenswürdigkeit. Ein schmaler Steg führt zum um 1700 gebauten Kloster, das fast die ganze Insel einnimmt. Heute ist es nicht mehr aktiv und kann
besichtigt werden. Die Klosterinsel liegt gegenüber der südlichen Spitze der
Landebahn vom Flughafen Korfu. Dorthin müssen wir nun fahren, um unseren Rückflug nicht zu verpassen. Wie immer
verpacken wir die Räder mit der mitgebrachten Folie und begeben uns dann auf den Rückflug nach Hamburg.
Zwei Wochen nach dem Start unserer Reise, die sich so ganz anders entwickelt hat als ursprünglich geplant, kommen wir glücklich und zufrieden zuhause an.